Der Grad der Beteiligung

(aus: „Facilitation – Dialog- und handlungsorientierte Organisationsentwicklung“, Scholz/Vesper, Verlag Vahlen, 2022)

Wir erwähnten bereits das „3-Schüssel-Modell“ (siehe Seite 75) als hilfreiches Tool der Auftragsklärung und Initialberatung. Es gibt ein weiteres, horizontal verlaufendes Erklär- und Denkmodell. Dieses wird in unserer Facilitation-Praxis „Grad der Beteiligung“ genannt. Das Modell ist sehr hilfreich, um mit dem Klienten gemeinsam die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Beteiligung“ zu erkunden. Ziel ist, böse Überraschungen zu vermeiden. Je klarer die Klienten wissen, wozu sie einladen und welche Auswirkungen das haben wird, desto mehr Vertrauen und Zuversicht entsteht in Bezug auf das facilitative Vorgehen. Grundsätzlich ist Begriffsklärung immer sehr hilfreich.

 

Information/Anweisung

Ein vergleichsweise geringer Grad der Beteiligung ist bei jeder Form der Informationsvermittlung gegeben. Informationen können sich auf Entscheidungen anderer, auf neue Vorgehensweisen/Prozesse, neue Produkte, auf gewünschtes Verhalten und vieles mehr beziehen. Die Erwartung bei Informationskampagnen ist meist, dass der Empfänger der Botschaft diese empfängt und sich entsprechend der Botschaft verhält. Somit können Informationen – vor allem im organisationalen Kontext – auch Anweisungen sein. Die mit Informationen und Anweisungen verbundenen Herausforderungen hatten wir bereits behandelt. Im Kern ging es darum, dass ein Kommunikationsverständnis nach der Kanaltheorie (Sender-Empfänger-Modell) selten die erwarteten Ergebnisse gelungener Kommunikation erzielt (siehe u. a. „Kommunikation ist ein Emergenzphänomen“ ab Seite 51). Sender-Empfänger-Kommunikation gelingt dagegen in alltäglichen, eingespielten, wenig komplexen Situationen, z. B.: „Würdest du mir bitte den Apfel geben!“. Wenn die Beziehung intakt und der Kontext für alle Beteiligten stimmig ist, sollte diese Kommunikation funktionieren. Sie bleibt aber abhängig von den kontextuellen Faktoren! Wenn es beispielsweise kurz vorher Streit gab, kann es schon wieder anders aussehen. Im organisationalen Kontext und ganz besonders im Kontext von Veränderungs- und Transformationsprozessen, wo es u.a. um existentielle Fragestellungen, Ängste, Selbstveränderung und Beziehungen geht, ist gelingende Information/Anweisung häufig schwieriger bzw. weitaus voraussetzungsvoller. Facilitatoren sind gute Beraterinnen und Prozessbegleiter im Umgang mit Informations- oder Anweisungs-Botschaften und ihren Auswirkungen. Daher ist es hilfreich, dass die Begriffe „Information/Anweisung“ Bestandteil der Skala „Grad der Beteiligung“ sind.

Interaktion

Der Begriff „ Interaktion“ ist zunächst ein Sammelbegriff für viele mögliche Formen des Zusammenwirkens, der Rückkopplung und der Erlebnisorientierung. Er wird z.B. als soziale oder menschliche Interaktion genutzt. In unserer facilitativen Praxis hat es der Begriff in dieses Denkmodell geschafft, weil ihn viele Klienten verwenden, wenn sie beispielsweise etwas sagen wie: „Machen Sie bitte etwas Interaktives!“. Interaktion ist manchmal ein Synonym für Partizipation und Beteiligung. Der Grad der Beteiligung ist dabei jedoch begrenzt. Oft, so scheint es uns, wird der Begriff vor allem dann gebraucht, wenn ein dialog-orientiertes oder „interaktives“ Format gemeint ist.

Die Frage nach dem „Wozu“ gibt Aufschluss über den Grad der Beteiligung: Was soll hinterher anders sein als vorher? Oder: Was wird von den Beteiligten erwartet und wozu dient es? Mit diesen Fragen finden wir während der Auftragsklärung und Initialberatung zum Beispiel heraus, dass es bei den auftraggebenden Primärklienten keine zwingenden Erwartungen an Mitgestaltung oder Verantwortungsübernahme seitens der Beteiligten gibt. Teilweise sind diese nicht nur nicht vorgesehen, sondern auch nicht erwünscht. Das Ziel interaktiver Formate ist dann z. B. Informationsvermittlung oder Inspiration. Die Annahme ist, man müsse den Beteiligten Gelegenheit geben, sich nur ein wenig mit der Sache zu beschäftigen und ihre Gedanken und Fragen zu äußern. In der Folge, so die Annahme, haben die meisten Menschen dann das Thema, die Botschaft oder die neuen handlungsleitenden Richtlinien besser verstanden und verinnerlicht. Und vielleicht haben sie auch ein wenig das Gefühl, beteiligt worden zu sein, sodass die neue Realität zum Teil unter ihrer Mitwirkung entstanden ist.

Der Begriff „Interaktion“ steht demnach des Öfteren für ein bestimmtes Kommunikationsverständnis und für einen damit einhergehenden Führungsstil, der in einigen Fällen an eine Überwindungstaktik oder an Manipulation erinnert. Da wir allerdings immer eine gute Absicht unterstellen, gehen wir eher davon aus, dass solche Initiativen gut gemeint, jedoch fernab von Kommunikations- und Beziehungskompetenz einzuordnen sind. In der Praxis hören wir leider häufig davon. Interaktion wird als Schein-Partizipation empfunden und schadet im schlimmsten Fall der Integrität einer Organisation bzw. eines größeren dialog-orientierten Projekts.
Das muss nicht der Fall sein, kann aber! Um Klienten gut vorzubereiten, zu begleiten und zu beraten, ist die Differenzierung und Begriffsklärung ebenso hilfreich wie die Erörterung möglicher Auswirkungen und der Frage, ob diese gewünscht sind.

Partizipation

Der Begriff „Partizipation“ wurzelt in dem lateinischen Wort „participatio“, welches sich aus „pars“ (Teil) und „capere“ (fangen, ergreifen, sich aneignen) zusammensetzt. In der Facilitation-Praxis spricht man auch von Beteiligung, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache und Einbeziehung.

Wenn es um Partizipation im Sinne von Mitwirkung/Mitbestimmung geht, kommt die Einladung zur Teilnahme meist aus der Hierarchie oder aus einer von der Hierarchie beauftragten Initiative, Institution oder Gruppe. Je nach Kontext gibt es eine Partizipations- bzw. Mitbestimmungspflicht. Im facilitativen Kontext empfehlen wir jedoch das Prinzip der Freiwilligkeit und der Selbstermächtigung.

Wichtig hierbei ist, den Raum für Partizipation zu einem authentischen Raum zu machen. Dies geschieht, in dem die einladende Instanz wohlbedacht kommuniziert, in welchem Rahmen, mit welchen zur Verfügung stehenden Ressourcen und welchem Ziel („Wozu“) eingeladen wird. Besonders hilfreich ist es, wenn diese Rahmen gebenden Faktoren in der weiteren Zusammenarbeit Gegenstand des Dialogs und der (Weiter-)Entwicklung sind, sodass sie optimiert werden können. Es gibt immer auch Setzungen und unverrückbare Rahmenbedingungen des Auftraggebers, jedoch sollte von allen Beteiligten angestrebt werden, diese Rahmenbedingungen oder Setzungen auf ihre Stimmigkeit hin zu prüfen und mitunter zu verändern oder weiterzuentwickeln.
Besonders hilfreich scheint uns, wenn den zur Partizipation Eingeladenen vermittelt werden kann, welchen Nutzen und Anteil sie selbst an der Initiative haben, inwiefern es sie betrifft und in welcher Rolle oder Funktion und mit welcher Kompetenzzuschreibung sie eingeladen sind. Dies allein zu präzisieren, könnte schon ein wertvoller Anlass für einen gemeinsamen Dialog sein.
Wenn das Ganze noch abgerundet wird durch wertschätzende Worte und dem Dank vorab, sich mit dieser Einladung überhaupt zu beschäftigen, dann wurden viele Erfolgsfaktoren berücksichtigt. Es lässt sich unschwer erkennen, dass bei der Einladung und Rahmung zur Partizipation der Teufel im Detail steckt. Facilitatoren und Facilitative Leader sind erfahrene Begleiterinnen und Beraterinnen in diesen wichtigen, frühen Orientierungsphasen.

Co-Creation

Facilitation und Facilitative Leadership sind primär verbunden mit dem Anwendungskontext der Co-Creation. An mehreren Stellen haben wir deshalb bereits über unser Verständnis von „Co-Creation“ geschrieben.

Co-Creation ist ein wertebasierter und freiwilliger Schaffensprozess von Menschen unterschiedlicher Profession, Disziplin, Kultur und Herkunft. Der Anspruch der Co-Creation ist mehr als „Mitmachen lassen“. Co-Creation ersetzt die fachliche Führung Einzelner. Sie ist die Absicht, in einen gemeinsamen Flow der Erkundung, des Studierens und des Prototyping zu gelangen, der zu gesellschaftlichen oder für Organisationen relevanten Ergebnissen führt. Auf diese Weise werden Partikularinteressen, Win-Loose-Games, das Ausführen von „Aufträgen“ oder das Abliefern determinierter Ergebnisse überwunden. Mehr Beteiligte übernehmen Verantwortung für das größere Ganze.

Ein wichtiger zusätzlicher Aspekt – gerade im Vergleich zur Partizipation – liegt darin, dass bei der Co-Creation die einladende Person oder Gruppe aus allen (!) Ebenen einer Organisation bzw. einer Gesellschaft oder Hierarchie kommen kann. Entscheidend ist, wer den Impuls gibt! Somit ist Co-Creation per se ein Format oder eine Philosophie im Kontext von Gleichwürdigkeit, Allparteilichkeit und Ergebnisoffenheit. Diese Werte könnten zwar grundsätzlich auch bei der Partizipation kultiviert werden, nur findet man dies in der Praxis seltener. Der Anspruch der Co-Creation ist also mehr als Mitmachen lassen.
Die Co-Creation ist ein gemeinsamer Schöpfungsakt gleichwürdiger Protagonisten, die ihren Teil an Kompetenz, Sichtweise, Kapazitäten und Ressourcen freiwillig für ein größeres oder höheres, die Einzelinteressen überragendes Ziel beitragen. Transparenz, eine vereinbarte Kultur der Begegnung und der Kommunikation sowie durchdachte und abgestimmte Koordinationsmechanismen sind einige wichtige Erfolgsfaktoren. Denn die kollektive Weisheit ist nicht garantiert und muss – vor allem wenn Vorgaben und eingeübte Mechanismen der klassischen Macht-Hierarchie fehlen – durch einen stimmigen Rahmen ermöglicht werden. Diesen stimmigen Rahmen zu erzeugen und zu halten, sodass sich kollektive Intelligenz und Weisheit zeigen kann, das ist Facilitation.

Co-Ownership

Am rechten Rand der Skala „Grad der Beteiligung“ liegt die Mit-Eigentümerschaft. In einer Zeit, in der Hierarchien flacher und durchlässiger werden, sind neue Eigentums- und Organisationsformen, die echte Beteiligung, geteilte Verantwortung und Gleichwürdigkeit bereits in der Konstitution verankern, vermehrt zu beobachten.
Ihr Nutzen liegt auf der Hand: Wenn sich Menschen, die direkt aus dem Unternehmen stammen oder aus anderen Gründen zusammenkommen, die Verantwortung für die Qualität einer Organisation teilen, dann kann sich das gesamte System selbst regulieren. Hier bekommen Fairness und geteilte Verantwortung ein belastbares Format (Rechts- und Organisationsform). Menschen kultivieren auf Basis verständlicher Praktiken und sozialer Technologien eine ganz neue Wirklichkeit (Kultur und Koordinationsmechanismen). Solche Organisationen sind oftmals um ein Vielfaches erfolgreicher und resilienter im Umgang mit gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen als Organisationen mit konservativen Macht- und Eigentums-Strukturen.
Es gibt unterschiedliche Bewegungen und Formen. Zum Beispiel die Commons-Bewegung, die eine Art zu Wirtschaften ohne Wettbewerb und Profitstreben kultiviert. Oder die Idee des Verantwortungseigentums (Purpose Economy), bei der Eigentum als eine Aufgabe und keine Geldanlage gesehen wird. Diese Organisationen werden als purpose driven, also sinn-getriebene Unternehmen bezeichnet. Weitere Bewegungen und Renaissancen sind zu finden in der Genossenschaft als alternative Organisationsform sowie in community-basierten Initiativen nach dem Vorbild der Solidarischen Landwirtschaft.
Organisationen werden lebendig, wenn allen Beteiligten klar ist, um welches „Wofür“, um welches Feuer sie sich mit Verantwortung und Selbstwirksamkeit versammeln. Facilitation scheint wie gemacht für diesen Anwendungskontext lebensdienlicher Initiativen und Organisationen. Denn beobachtbar ist, dass auch in solchen, an der Ganzheit ausgerichteten und sinn-getriebenen Organisationen Menschen mit ihren verschiedenen Anteilen zusammenkommen. Facilitation liefert die dafür hilfreiche Führungs-, Prozess- und Methodenkompetenz.

Die Erörterung und Differenzierung dieser Begriffe und die damit einhergehende Reflexion kann helfen, die Vorgehensweise und den Kommunikationsstil zum Gegenstand der Beratung werden zu lassen. Somit hilft das Denkmodell „Grad der Beteiligung“ immer dann, wenn eine erste Einordnung (die sich verändern darf) für das weitere Vorgehen hilfreich erscheint.

 

Weiteres

Das Buch „Facilitation – Dialog- und handlungsorientierte Organisationsentwicklung“

Das Facilitator Curriculum der Kommunikationslotsen