Online Facilitation
Die meisten Menschen würden der persönlichen Begegnung einem digitalen Treffen vorziehen. Und doch bietet der digitale Raum für Facilitation eine Fülle an Möglichkeiten, und es gibt sogar Dinge, die nur online möglich sind. Und doch: Online Facilitation ist zu 95 Prozent Facilitation!
Als eine der wertvollen Hilfs-Disziplinen kommt Online Facilitation der Verdienst zu, Facilitation Menschen zugänglich zu machen, die sich weltweit an ganz verschiedenen Ort aufhalten. Tatsächlich treffen sich täglich verteilte Teams, kleine und große Gruppen aus aller Welt, um online zusammenzuarbeiten, zu lernen oder einfach nur, um sich wiederzusehen. Niemand braucht für ein Gespräch, ein Kennenlernen oder für ein Planungsmeeting das Haus zu verlassen. Wer schon einmal online an einer achtsam begleiteten weltweiten Weiterbildung, einer Dialogveranstaltung oder an einer Hochzeitszeremonie teilgenommen hat, der weiß um die Kraft und die potenziell emotionale Wirkung des virtuellen Raumes.
„Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit habe, an diesem Onlinemeeting teilzunehmen und dass ich so viele wunderbare Menschen mit ähnlichen und doch so unterschiedlichenHintergründen kennenlernen darf. Es scheint, als wären wir alle gemeinsam dabei!!!“
Mit Online Facilitation ist nicht alles, aber vieles möglich. Und ja, Begegnungen im digitalen Raum sind anders als solche im analogen Raum. Wir werden in diesem Kapitel darüber schreiben, was möglich ist und worauf es mit Blick auf Facilitation ankommt. Alles, was wir beschreiben, kommt direkt aus der Praxis. Vieles, was wir gelernt und an Ideen und hilfreichen Praktiken entwickelt haben, ist in der Zusammenarbeit mit internationalen Kolleginnen und Kollegen entstanden. Wenn wir von Online Facilitation sprechen, dann meinen wir „Online-Hosting“. Denn ähnlich wie bei The Circle Way (Seite 222) und beim World Café (Seite 262) sprechen wir auch online eher von „Gastgeberschaft“ (engl. „Hosting“). Die Qualitäten eines guten Gastgebers mit der entsprechenden Haltung, der Freundlichkeit und der Bereitschaft, Verantwortung für einladende Räume zu übernehmen, spiegeln sich in dem Begriff „Online Hosting“ wider.
Starten wir mit ein paar wesentlichen Grundannahmen, die Online Facilitation bzw. Online- Hosting intensivieren und stärken:
#1: Wir Menschen sind nicht weniger real, nur weil wir online sind.
#2: Technologie will deine Verbündete sein.
#3: Die wichtigste Zeit in einem Online-Meeting ist die Zeit vor dem Online-Meeting.
#4: Online-Hosting ist zu 95 Prozent Facilitation.
Grundannahmen
Grundannahme #1: Wir Menschen sind nicht weniger real, nur weil wir online sind
Menschen sind reale, lebendige und fühlende Wesen auch vor dem Bildschirm, so wie in einem Stuhlkreis vor Ort. Alles, was wir miteinander erfahren, besprechen, alle Verabredungen und Vereinbarungen haben den gleichen Wert wie in der analogen Welt. Manche sagen „nur online“. Darin liegt eine nicht notwendige Beschränkung oder gar Abwertung von Online-Interaktionen. Die Grundannahme, dass online „nicht wirklich“ oder „nicht echt“ wäre, hat Auswirkungen. So stehen Menschen ggf. nicht in gleicher Weise zu ihrem Wort oder zu dem, was erarbeitet wurde. Auch wenn es ihnen nicht bewusst ist, kann sich diese Grundannahme in die eigene Wahrnehmung und das eigene Handeln hineinweben. Das wäre nicht zieldienlich. Facilitatoren, die online arbeiten, empfehlen wir daher eine Grundannahme, beispielsweise „Menschen sind real – online und offline.“
Grundannahme #2: Technologie will deine Verbündete sein
Wer kennt das nicht, wir befinden uns in einem Online-Meeting, und es kommt der entscheidende Moment, in dem etwas wirklich gelingen muss. Und genau in diesem Moment wird der Bildschirm schwarz oder der Ton fällt aus. Diese, im Amerikanischen liebevoll als „Tech-Monkeys“ („Technik-Affen“) bezeichneten Zwischenfälle kann man nicht verhindern, man kann aber wählen, wie man darauf reagiert. Es ist hilfreich, in einer Gruppe davon auszugehen, dass nicht alles nach Plan laufen wird und dazu direkt zu Beginn Absprachen zu treffen. Zum Beispiel kann man sich darauf verständigen, dass immer dann, wenn die Technik an einer bestimmten Stelle zu haken scheint, allen Teilnehmenden zunächst einmal miteinander tief ein- und ausatmen und dann applaudieren. So lassen sich vermeintlich peinliche und Stress auslösende Situationen positiv und potenzialorientiert nutzen.
Die Personifizierung und Bezeichnung als „Tech-Monkeys“ schenkt uns eine freundliche Vorstellung von dem, was da gerade passiert. Statt individueller oder kollektiver Ohnmacht laden uns die „Tech-Monkeys“ zu einer spielerischen Haltung und Handhabung ein. Darüber hinaus hilft vielleicht die Erfahrung, dass es im Online-Raum – wie offline – offenbar für Teilnehmende mehr Bedeutung hat, wie sehr man sich um sie kümmert und wirklich achtsam und präsent ist, und weniger, wie viele verschiedene Apps und zusätzliche Online-Plattformen man nutzt.
Grundannahme #3: Die wichtigste Zeit in einem Online-Meeting ist die Zeit vor dem Online-Meeting
Es gibt immer einen Prozess vor dem Prozess. Als Online-Host gründen wir ein Gastgeber-Team („Hosting-Team“), bestehend aus einem Prozess-Host, einem Technik-Host („Tech-Host“) und oft auch einem Schreiber/Visualisierer („Scribe“). In diesem Team entwickeln wir – meist unter Einbeziehung potenzieller Teilnehmer – die Intention und den Gesamtprozess. Auch ein einzelnes Online-Meeting hat einen Prozess davor, einen Prozess während und einen Prozess danach. All dies schauen wir uns an, sprechen es durch und verteilen To-dos gemäß unserer Rollen. Am Tag des Online-Meetings treffen wir uns eine Stunde vorher, machen im kleinen Kreis einen Check- in, prüfen die notwendige Technik und gehen noch einmal die Zielsetzung und unser Flow-Dokument (Agenda) durch. Diese Praktik erkennen wir in der Aussage von Joseph Jaworski wieder:
„Die wichtigste Zeit in einem Meeting ist die Stunde vor dem Meeting.“ Joseph Jaworski
Um ein breiteres soziales Feld zu erschließen, schaffen wir einen warmen und inspirierten Wir-Raum im Gastgeberteam. Detailliert vorbereitet und in einer guten, verbundenen Verfassung starten wir das Online-Meeting. Durch die Vorbereitungen haben wir ein soziales und in technischer Hinsicht optimales Feld vorbereitet. Damit erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, dass der Online-Raum auf verschiedenen Ebenen als weit, einladend und zieldienlich wahrgenommen wird. Und wir sind auf eine Art und Weise innerlich und äußerlich vorbereitet, dass die Grundannahme „Technologie will deine Verbündete sein“ in positiver Weise erfahrbar wird.
Grundannahme #4: Online-Hosting ist zu 95 Prozent Facilitation
Wenn es uns als Online-Host gelingt, die beiden erstgenannten Grundannahmen zu integrieren und unser Facilitation-Know-how abzurufen, dann verfügen wir bereits über 95 Prozent der not- wendigen Fähigkeiten. Als Facilitatoren wissen wir, wie wichtig der Rahmen ist, den wir uns selbst geben, um erfolgreich zu sein. Im Bereich von Online Facilitation inspiriert uns dieses Prinzip:
„Quetschen Sie nicht ein ganzes Tagesprogramm in zwei Stunden.“
Marvin Weisbord und Sandra Janoff
Gerade online ist es keine gute Idee, wenn man das Format und den Zeitansatz von Anfang an überfordert. Teilnehmende spüren das sehr schnell, werden kritisch und steigen innerlich aus. Um ein Erleben von Raum und Begegnungsqualität zu ermöglichen, ist eine komfortable Agenda, die Zeit für Menschlichkeit sowie für kleinere Exkurse, Dialoge und Nachfragen zulässt, förderlich.
Kurzum, wir können online unser gesamtes Erfahrungswissen in Beratung und Begleitung, genau wie in der analogen Welt, zum Einsatz bringen. Unser gesamtes Repertoire entlang des Facilitation-Flows – von der Intention über Preparation und Co-Creation bis schließlich zum Harvesting – ist gefragt. Was ist die Intention? Zu was genau wird eingeladen? Wie muss das Ganze gerahmt und vorbereitet werden? Wer muss dabei sein? Pilotgruppen? Kreisarbeit? Zukunftskonferenz? Open Space? Jeder Mensch und jede Organisation kann sich beim Online-Hosting die Prozess- und Methodenexpertise eines Facilitators zunutze machen.