„Worauf es in Zukunft daher in deutlich höherem Maße ankomme, seien die sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen, erklärt der Neurowissenschaftler Gerald Hüther. Dazu gehörten Kompetenzen wie:
- Handlungsplanung
- Impulskontrolle
- Frustrationstoleranz
- Verantwortungsgefühl
- Empathie
- Selbstreflexionsfähigkeit
- Offenheit für neue Erfahrungen und Beziehungen“
(https://www.focus.de/familie/eltern/familie-heute/hirnforscher-warnt-wir-ueberschaetzen-die-schule-masslos-mit-fatalen-folgen_id_11682828.html)
Die Kompetenzen, die Gerald Hüther im Zusammenhang mit der Diskussion um „die Schule der Zukunft“ beschreibt, sind zugleich auch Fertigkeiten und Fähigkeiten, die im Rahmen von Facilitation ein Fundament für Partizipation, Co-Creation und gelingende Zusammenarbeit bilden.
Fünf kleine Hebel mit großer Wirkung
In diesem Blog geht es um fünf Aspekte, die mir in den Wochen und Monaten der Corona-Pandemie echte Orientierung und Entlastung gegeben haben. Kleine Hebel mit großer Wirkung, die zu tun haben mit Handlungsplanung, Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, Verantwortungsgefühl, Empathie, Selbstreflexionsfähigkeit und der Offenheit für neue Erfahrungen und Beziehungen.
1. Gestalte einen sicheren Beziehungs-Raum – auch digital!
In der facilitativen Denk- und Lebensschule lehren und lernen wir, das (organisationale) Leben würdevoll, menschlich und zum Wohle aller und allem zu gestalten. Das menschliche Miteinander ist das Fundament unserer Arbeit. Kümmere dich zuerst um die Menschen und schaffe einen Raum, in dem alle sich so sicher fühlen, dass sie sich trauen, sich als ganze Menschen zu zeigen und einzubringen. Die Gestaltung eines solchen Raumes ist in der analogen wie in der digitalen Welt gleichermaßen wichtig. Gestalte einen sicheren Raum, in dem es tiefe Verbindungen untereinander, mit der Intention und dem Thema gibt.
Wozu ist das gut?
Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Menschen ihr gesamtes Potential einbringen, wenn sie spüren, dass ihr Beitrag wertgeschätzt wird, wenn sie willkommen sind auch mit ungewöhnlichen Gedanken, Ideen und möglicherweise sogar Gefühlen. Die Beziehungen in diesem Raum sind so stabil, dass z.B. Fehler als ein gemeinsames Lernfeld möglichst entspannt genutzt werden können. Und auch die Stillen haben mit ihren Gedanken und Ideen Platz. Ein solcher gemeinsamer Denkraum ermöglicht den Erwerb bzw. die Verfeinerung der oben zitierten Zukunfts-Kompetenzen. Im analogen Raum durften wir dazu viele Erfahrungen mit Kunden und Teilnehmerinnen/Teilnehmern in unseren Trainings machen.
Durch Erfahrungen in der Corona-Zeit wissen wir, dass der digitale Raum ähnlich tiefe Erfahrungen ermöglicht. Wir erleben digitale Meetings, die geprägt sind durch Mut, Offenheit und Vertrauen. Sie sind für uns oft Highlights in dieser Zeit, in der direkte menschliche Begegnungen eingeschränkt sind. Das, was wir zu der Gestaltung eines sicheren digitalen Raumes in unserer „Lotsenschule“ gelernt haben, geben wir in unserem
Lotsenpaper zum Online Hosting weiter.
2. An Muster des Gelingens aus der Vergangenheit erinnern
Das facilitative Handwerk beinhaltet u.a. Formate, Methoden, Prinzipien und Mikrointerventionen. Ein wichtiges Prinzip in Krisenzeiten ist es, sich immer wieder an das zu erinnern, was bereits in der Vergangenheit gelungen ist. Corona löst für viele Menschen Stress aus. Stress zeigt sich z.B. durch Ängste oder irrationale Reaktionen. So kann man sich die zeitweiligen Hamsterkäufe von Toilettenpapier erklären. Im Stressmodus ist das Denkvermögen eingeschränkt, weil automatisch alle Kräfte auf Flucht oder Kampf ausgerichtet sind.
Vom Stresserleben ins Kompetenzerleben
Eine nützliche Strategie, um aus einem Stresserleben in ein Kompetenzerleben zu gelangen, ist es, sich an Muster des Gelingens zu erinnern. Welche Krisen haben wir in der Vergangenheit gemeinsam oder auch einzeln gemeistert? Wie ist das damals gelungen? Welche Faktoren haben dabei geholfen, die damalige Krise zu überwinden? Sich an die eigenen und gemeinsamen Faktoren des Gelingens zu erinnern hilft, sich die bereits vorhandenen Kompetenzen vor Augen zu führen. Durch diese Form der Aufmerksamkeitssteuerung – den Blick auf Muster des Gelingens in der Vergangenheit zu richten –, gerät das Stresserleben in den Hintergrund. Worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, wird mehr. Die damaligen Erfolgsfaktoren geben, wenn sie aus der Vergangenheit in die Zukunft transferiert werden, wichtige Hinweise für die Handlungsplanung.
3. Go long to go short!
„Go long to go short“ ist ein
Zitat des Neurowissenschaftlers David Rock. Es geht um das verständliche Anliegen, zu einer gemeinsamen Vision zu kommen, auch wenn die Krise noch nicht überwunden scheint. Wie soll es in Zukunft weitergehen? Was ist unsere Vision? Zum Erarbeiten einer gemeinsamen Vision gibt es einen sehr spannenden Hinweis. Er besagt, dass es wichtig ist, den Blick in eine ferne Zukunft zu wagen. Circa zehn Jahre ist die Empfehlung der Wissenschaftler. Wieso? In Krisenzeiten ist das Gehirn des Menschen sehr aktiv und sehr wachsam. Es ist bildlich gesprochen sehr laut im Gehirn. In einem lauten Gehirn kann man keine leisen Signale der Zukunft hören. Wir brauchen also einen Reiz für das Gehirn, der es stiller werden lässt, der Entspannung auslöst. Die Einladung, sich vorzustellen, wie es in zehn Jahren sein könnte, stoppt den momentanen Gedankenfluss quasi automatisch. Es wird sofort ruhiger im Gehirn und damit wird es leichter, kleine Signale wahrzunehmen, die auf eine wünschenswerte Zukunft hindeuten. Sich mit der Zukunft zu beschäftigen wird durch das Prinzip „Go long to go short“ einfacher und stressfreier.
4. Derzeit ist das so!
Die facilitative Kunst bezieht sich u.a. auch darauf, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Im Rahmen von Facilitation in Corona-Zeiten möchte ich dazu in diesem und im nächsten Abschnitt augenzwinkernd zwei Kunstgriffe erläutern. Der Duden definiert den Begriff Kunstgriff als eine nur Eingeweihten bekannte, besonders wirksame Methode, ein bestimmtes Ziel auf einfache Weise zu erreichen. Diese Art von Kunst scheint jetzt besonders hilfreich, wenn es darum geht, dem Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit Nahrung zu geben.
Im ersten Kunstgriff geht es darum, Stress und Druck im Alltag zu minimieren durch das Wort „derzeit“. Der hoffnungslose Satz „Wir wissen nicht, wie es weitergehen wird.“ wird zu einem zuversichtlicheren Satz: „Derzeit wissen wir noch nicht, wie es weitergehen wird.“ Das Wort „derzeit“ einzufügen als Kunstgriff bei allem, was jetzt herausfordernd ist, signalisiert dem menschlichen Gehirn, dass es zwar heute so ist, aber morgen schon anders sein kann. Derzeit lerne ich mit digitalen Tools umzugehen. Morgen könnte ich schon eine Meisterin darin sein. Derzeit bin ich unsicher, wie ich als Führungsperson mit Kontrolle in Corona-Zeiten umgehen will. Morgen könnte ich meinen Weg dazu gefunden haben. Derzeit referenziert auf einen bestimmten Zeitpunkt. Die Option, dass sich die Bedingungen zu einem anderen Zeitpunkt verändert haben werden, ist implizit enthalten. Das wirkt für das menschliche Gehirn entlastend.
5. Ist es wesentlich oder ist es erschöpfend?
Radikales Priorisieren wird in der Corona-Zeit zu einem neurowissenschaftlich begründeten weiteren Kunstgriff, der zuverlässig hilft, nicht in den Stressmodus zu geraten. Zu viele offene, zusammenhanglose Themen/Ansprüche/Vorhaben führen im Gehirn des Menschen zum Erleben von Inkohärenz. Dieses Erleben zeigt sich z.B. in Frustration, Ärger, Überforderung oder schlechter Laune.
Dem kann man durch den Kunstgriff des Priorisierens entgegenwirken. Zwei Fragen helfen beim Priorisieren: Ist es wesentlich oder ist es erschöpfend? Wir leben in historischen Wochen und Monaten. Viele spüren deutlicher, was wirklich wesentlich ist. Dieses Erleben hilft dabei, entschieden zu priorisieren. Das bezieht sich auf jeden Einzelnen und natürlich auch auf Teams. Denn nur so werden Kapazitäten freigesetzt und die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung des Wesentlichen um ein Vielfaches erhöht. Das wiederum wirkt sich auf die Zufriedenheit und Freude aus – beim Einzelnen und in der Organisation. So ist das Priorisieren in der Corona Zeit ein sehr wichtiger, stressreduzierender Faktor für die gemeinsame anstehende Arbeit.
Zum guten Schluss…
Abschließend sei gesagt: In schwierigen Zeiten wissen wir nicht, was als Nächstes kommt. Aber wir können ziemlich sicher sagen, dass es sich lohnt, die von Hüther oben erwähnten Fähigkeiten weiter zu trainieren. Impulskontrolle und Frustrationstoleranz als hilfreiche Kompetenzen im Umgang mit Stress. Die Übernahme von Verantwortung über den eigenen Tellerrand hinaus, als Beitrag zur zukünftigen gesellschaftlichen Gestaltung. Die Fähigkeit, einen (digitalen) Raum zu öffnen, damit Menschen sich empathisch begegnen können. Und immer wieder die Pflege der Selbstreflexion, um noch achtsamer zu werden für den Gebrauch und die Wirkung von Worten und Taten. Das sind Schlüsselkompetenzen, die uns in diesen Wochen jeden Tag nützlich sein können. Und wenn es uns dann noch gelingt, humorvoll uns selber nicht so wichtig zu nehmen, dann ist auch das hilfreich.