„Leading as Sacred Practice“ – Wie Führung ein Segen sein kann (5 Praktiken)

„Leading as Sacred Practice“ – Wie Führung ein Segen sein kann (5 Praktiken)
von Holger Scholz

 

In diesen Zeiten ist es eine besondere Fähigkeit, Menschen einen Raum zu bieten, der nicht nur sicher, sondern auch heilig, im Sinne von heilsam und stimmig, ist. Einen Raum, der zu einer Landebahn für die Zukunft¹ werden kann. Einen Raum, der ein sorgfältig konstruiertes Kollektiv entstehen lässt.

Als Raumhalter arbeiten wir oftmals mit Kräften, die größer sind als wir selbst. Wir bewegen uns in einem Bereich, der sich irgendwo zwischen Ästhetik und Zeremonialkunst befindet. Wenn wir uns mit diesen größeren Kräften verbinden, kann – zum Beispiel in einem Meeting – eine Tiefe und Bedeutung von allen Beteiligten direkt empfunden und als nährend und heilend erlebt werden. Führung und bewusst erlernte und geübte Wegbegleitung können als eine zeremonielle, manchmal heilige Praxis angesehen werden. Diese Praxis schenkt uns im besten Falle eine (Lebens-)Qualität, die über Inhalte, Werkzeuge und Methoden hinausgeht.

Es gibt fünf Schlüsselpraktiken, die mir den Weg in diesen zeremoniellen Raum weisen:

  • Mache die Dinge schön. (Make things nice.)
  • Wähle höhere Beweggründe. (Choose higher ground.)
  • Lade ein in den Kreis. (Invite Circle.)
  • Gehe langsam, um schnell voranzukommen. (Go slow to go fast.)
  • Übe demütige Neugier. (Practice humble inquiry.)

Im folgenden Blog teile ich meine Erfahrungen und die Historie, wie es zu der Initiative „Leading as Sacred Practice“ kam.


„Du machst nicht einfach nur Facilitation, Du schöpfst aus tieferen Quellen.“, sagte meine Kollegin² auf der Internationalen Konferenz der Facilitator (IAF, International Association of Facilitators) in Edinburgh. Wir kamen ins Gespräch und ich begann, über diese tieferen Quellen der Führung und professionellen Wegbegleitung nachzudenken. Ich stellte fest: Das stimmt. Mir geht es immer auch um Präsenz und um die Fähigkeit, sich voll und ganz auf den Moment einzulassen. Das war im Jahr 2004.

Zehn Jahre später gab es eine ähnliche Situation auf der EuViz-Konferenz, der European Conference for Visual Thinkers, Practitioners & Facilitators, in Berlin. Diese Konferenz hatten wir Kommunikationslotsen mit Neuland ausgerichtet. Wir schufen einen Kreis mit einem Mittelpunkt und vier Ausgangspunkten, die entsprechend der Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Der Auftakt war ein besonderer Moment, auf den wir als Initiatoren und Gastgeber ein Jahr lang hingearbeitet hatten. Im Saal waren etwa 240 Personen aus 22 Nationen anwesend. Meine Kollegin Gisela Wendling sagte im Rückblick:

„Ich habe gesehen, wie du diesen Raum betreten hast … und ich habe die Art und Weise, wie du ihn betreten hast, und die Energie, die ich dabei empfand, bemerkt. Da war Präsenz. Und ich wusste, dass du dich mit Ritualen und mit dem heiligen Raum auskennst. Ich spürte deine Demut und deine Offenheit für die Gegenwart.“

Es war und ist mir stets ein Anliegen, den Menschen einen Raum zu bieten, der nicht nur sicher, sondern in gewisser Weise auch als heilig wahrgenommen werden kann. Für Menschen, die sich mit Führung, Zusammenarbeit und Organisationsgestaltung beschäftigen, ist das Konzept des Heiligen in diesem Zusammenhang gegebenenfalls ungewohnt und dennoch passend. Ich denke, es passt zu Ann Doshers Definition von „heilig“ als alles, was für sich und für das größere Ganze einen Wert darstellt.

„Heilig ist alles, was einen Wert hat. An und für sich und für das größere Ganze“. (Ann Dosher)

Hinter vielen hilfreichen Führungsaufgaben stehen grundlegende Praktiken, die dem Leben und den Menschen dienen, wie zum Beispiel Orientierung zu geben und Einzelpersonen und Gruppen in schwierigen Phasen zu begleiten. Es geht weniger um methodenbasiertes Management und Gesprächstechniken als um subtile Unterstützung, um etwas ans Licht zu bringen, das durch das Kollektiv entstehen will. Hilfreich dabei sind Kenntnisse über die Phasen von Übergängen („Rites of Passages“) und die dazugehörigen Praktiken, die rituelle Aspekte haben.

Going Deeper – Interventionen als Einladung zur inneren Umkehr

In vielen hilfreichen Praktiken der Führung und Begleitung finden wir alte, heilige Ordnungen, die echte, tiefgreifende Veränderungen ermöglichen. Macht es Sinn, sich beispielsweise als Führungskraft, Projektleiter oder Coach für diese Aspekte der Führung zu öffnen? Ich denke schon – es ist sogar äußerst sinnvoll. Ich glaube, es geht weniger um Technik als vielmehr um Erfahrungswissen und um eine persönliche Arbeit, die von innen heraus beginnt. Es geht um Prozesse des Sterbens und der Neugeburt. Es sind persönliche Prozesse der Entwicklung des Selbst mit Blick auf noblere, nicht ego-zentrierte Sinnfindung. Ein großer Hebel dabei ist die Erforschung eigener Grundannahmen und Weltbilder. Ist die individuelle Basis gelegt, lassen sich diese Prozesse leichter in Kollektiven erwecken. Dies ist für die größeren Fragen unserer Zukunft auch notwendig.

Es geht um Fragen wie diese:

  • Woher kommen wir?
  • Wohin wollen wir gehen?
  • Wer sind wir und wer könnten wir sein?
  • Was denken wir über unsere Rolle im Kanon allen Lebens?
  • Was ist das lebensbejahendste, was wir jetzt tun können?

Menschen, die sich mit Fragen wie diesen auseinandersetzen und sie aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten, kann es gelingen, sich über alltägliche Initiativen der Verbesserung, Selbstoptimierung und des wirtschaftlichen Überlebens zu erheben. Nicht, dass die Investitionsrentabilität an sich eine schlechte Sache wäre. Sie ist nur nicht die beste Grundlage dafür, wirklich etwas zu bewirken, was von größerer Bedeutung für das größere Ganze wäre.

Mit ein wenig Übung beginnt eine Entwicklung. Das gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen und Organisationen. Eine von vielen Implikationen dieses Prozesses ist eine Veränderung unserer inneren Verfassung. Dr. C. Otto Scharmer, der den Unternehmer William O‘Brian zitiert, schreibt:

„Der Erfolg einer Intervention hängt von der inneren Verfassung des Intervenierenden ab.“³

Diese Aussage basierte auf der Beobachtung, dass erfolgreiche Ergebnisse häufiger mit dem inneren, weniger sichtbaren Zustand der Intervenierenden in Verbindung gebracht wurden als mit der äußeren Anwendung eines bestimmten Ansatzes oder Instruments. Die Wirkung dieser inneren Verfassung oder Quelle bezieht sich nicht nur auf Einzelpersonen. Auch ein Kollektiv kann mit tieferen Ebenen und Quellen in Kontakt kommen. Was dabei entsteht, kann als kollektive Weisheit bezeichnet werden. Wenn dies geschieht, wird Tiefe und Intensität wahrgenommen. Das mag für das Auge unsichtbar sein, es wird aber von den Beteiligten oft als absolut relevant, bedeutsam und heilend empfunden.

Durch Prozesse dieser Art geschieht von Zeit zu Zeit etwas, das Kathleen Dannemiller, leidenschaftliche Verfechterin der Veränderung ganzer Systeme, als „kleine Momente der Wahrheit“ bezeichnet hat. Diese Momente können nicht absichtlich geplant oder angestrebt werden, aber man kann sich ihnen öffnen und Dinge unterlassen, die sie verhindern.

Wenn es uns gelingt, unser Denken zu erweitern vom Blick auf die Partikularinteressen und Performance der eigenen Organisation hinaus auf das, was die Welt (nicht die Aktionäre) gerade wirklich, wirklich braucht, wären wir in der Lage, das große Ganze zu erkennen und unser Handeln darauf auszurichten.

Wenn wir uns erst einmal daran gewöhnt haben, dass unsere tägliche Agenda ein Teil eines größeren, bedeutsamen Ganzen ist, dann werden wir mit mehr Energie, Kreativität und Lebensfreude ausgestattet sein als bisher.

Führung und professionelle Wegbegleitung können da hilfreich sein, manchmal sogar als „heilige Praxis“ angesehen werden. Es gibt eine Qualität, die über Inhalte, Werkzeuge und Partikularinteressen hinausgeht. Diese Qualität ist für Menschen spürbar; sie können die Unterschiede erkennen, vor allem, wenn sie sie zuvor selbst erlebt haben.

Das sind große Fragen und große Themen. Die folgenden fünf Praktiken können uns helfen, eine Landebahn* für diese Fragen und Themen vorzubereiten. Eine Landebahn für das Sinnvolle und Bedeutsame – vielleicht auch das „Heilige“.

Eine Landebahn für das Sinnvolle und Bedeutsame

Make things nice. Mache die Dinge schön. – Achte auf Ästhetik in Form und Ausdruck. Wähle Orte und schaffe Settings/Räume mit Bedacht. Schaffe ein Zentrum und denke daran, wie das Zentrum alles zusammenhält und wie es den Wandel in Bewegung bringt. Schönheit und Ästhetik, nicht nur als Teil eines Raumes, sondern auch als Praxis des Denkens, sind ein Ausdruck von Liebe, Frieden und Perfektion.

Choose higher ground. Wähle höhere Beweggründe. – Von dort aus kannst du, bildlich gesprochen, eine andere Perspektive einnehmen. Stelle größere Fragen, lasse dich nicht in die Banalitäten der Organisationsfragen verstricken. Wenn es um Leistungsverbesserung geht, frage dich, was der höhere Zweck ist. Überwinde die rein organisationszentrierte Sichtweise. Verfolge edle Ziele mit Sinn und weitreichender Bedeutung für das größere Ganze.

Invite Circle. Lade ein in den Kreis. – Rufe Menschen in den Kreis. Übe die Praktiken und inspiriere für „There is a leader in every chair.“ (Eine Führungskraft auf jedem Stuhl.) Wir alle müssen Verantwortung für die Welt übernehmen, in der wir leben. Wir können die Verantwortung nicht nur einigen wenigen überlassen. Gib kollektiver Weisheit eine Chance. Der Kreis erinnert uns daran, nicht Zuhörer, sondern authentischer Teilnehmer am Leben zu sein. Der Kreis ist eine Intervention.

Go slow to go fast. Gehe langsam, um schnell voranzukommen. – Verlangsame die Kommunikation, vermeide Für- und Gegenrede. Worte, die ins Schweigen fallen, haben mehr Gewicht. Überstürze nichts, wenn du in Eile bist. Fragen, zuhören, abwägen. Wenn ein Projekt oder eine Initiative nur unter Zeitdruck vorangetrieben werden soll, wähle Zeit als Thema. Erkundige dich nach den Grundüberzeugungen in Bezug auf Zeit und Timing.

Practice humble inquiry. Übe demütige Neugier. – Übe die bescheidene Nachfrage. Der Versuch, angesichts komplexer Beziehungen, Neugier im Sinne von echtem Verstehen-Wollen zu praktizieren, ist ein unabhängiger und wertvoller Prozess. Ein Prozess, der Aufmerksamkeit braucht. Nutze die Weisheit anderer und nimm divergierende Standpunkte ein, bevor du dich für eine Richtung entscheidest. Das führt zu klügeren Entscheidungen.

„Jedes Problem, ob groß oder klein, erfordert eine ungeheure Demut, die Demut, ihm zu erlauben, uns zu sagen, was es von uns erwartet, und ihm nicht zu sagen, wie es gelöst werden kann. Es entwickelt sich aus seinem eigenen inneren Konzept, dem wir zuhören und das wir verstehen müssen.“ (Friedrich Kiesler, 1960)

In meinen amerikanischen Kollegen Gisela Wendling und David Sibbet von The Grove und Alan Briskin (Autor von „The Power of Collective Wisdom & the Trap of Collective Folly“) fand ich Wegbegleiter für diese Ideen. Gemeinsam wollen wir Menschen finden, die Führung und Wegbegleitung als eine heilige Praxis verstehen und die bereit sind, diese Ideen mit uns zu teilen und weiterzuentwickeln.

Unter dem Motto „Leading as Sacred Practice“ bieten wir einen Untersuchungskorridor an. „Leading as Sacred Practice“ wird nächstes Jahr in Form eines internationalen Gipfels als Retreat vom 27. September bis 1. Oktober 2021 in Petaluma, Nähe San Francisco (USA) stattfinden. Wir werden mit Menschen zusammentreffen, die ein tieferes Verständnis von Führung und Wegbegleitung als „heilige Praxis“ gewinnen wollen, um diese intensiver zu erforschen und zu erüben.

Ich würde mich freuen, dich dort zu sehen.

Holger Scholz

 

 

 

Mehr Informationen

Website: Leading as Sacred Practice Summit 2021

YouTube: Leading as Sacred Practice Findings (5 min.)

 

Fußnoten

¹ „Landebahn“: ein von Joseph Beuys geprägter Begriff in ähnlichem Zusammenhang

² Mary-Alice Arthur, https://www.getsoaring.com/

³ Scharmer, Otto, “Theory U – Leading from the Future as it emerges”, SoL, ISBN 978-3-9811859-0-4/

 

Literatur
Baldwin, Christina & Linnea, Ann, The Circle Way: A Leader in Every Chair, Berrett-koehler Publishers, Inc., San Francisco, 2010, ISBN 978-1-60509-256-0

Scharmer, Otto, Theory U – Leading from the Future as it emerges, SoL, ISBN 978-3-9811859-0-4

Sacks, Shelley & Kurt, Hildegard, Die rote Blume: Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandels, thinkOYA/Drachen Verlag GmbH, Klein Jasedow (2013), ISBN978-3-927369-77-1

Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, GA 001, 4. Auflage, Rudolf Steiner Verlag (1987), ISBN 978-3-7274-0011-7

Campbell, Joseph, The Hero with a Thousand Faces, Bollingen Foundation/Pantheon Books , The Collected Works of Joseph Campbell edition, New World Library (2008), ISBN 978-1-57731-593-3

Moore, Robert L., The Archetype of Initiation – Sacred Space, Ritual Process and Personal Transformation, Xlibris Corporation (2001), ISBN 0-7388-4765-8

van Gennep, Arnold, Übergangsriten (Les rites de passage), Campus Verlag, Frankfurt/Main (3., erweiterte Auflage 2005), ISBN 3-593-37836-1

Maturana, Humberto R., Pörksen Bernhard, Vom Sein zum Tun – Die Ursprünge der Biologie des Erkennens, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (2008), ISBN 978-3-89670-669-0