Fünf goldene Regeln für Changemaker.

Wenn wir unsere Arbeitswelt verändern wollen, brauchen wir Entwicklungs-, Lern- und Veränderungsprozesse im ganzen relevanten System. Solche langfristigen und umfassenden Veränderungsinitiativen gelingen, wenn sie von allen Beteiligten getragen werden und nachvollziehbar vonstatten gehen. Das klingt einfacher als es ist: Es gibt viele bereits im Ansatz gescheiterte Initiativen, bei denen die Komplexität der Wirklichkeit ebenso unterschätzt wurde wie die Unvorhersehbarkeit der sich entwickelnden Dynamiken. (siehe auch: „Change kann man nicht bestellen, wie man eine Pizza bestellt!“)

Aus unserer Erfahrung als Kommunikationslotsen haben wir „Fünf goldene Regeln für Changemaker“ entwickelt, die den Erfolg solcher, multiperspektivischer Veränderungs-Initiativen wahrscheinlicher machen sollen:

  1. So früh wie möglich
  2. So repräsentativ wie nötig
  3. So machtvoll wie möglich
  4. So klar wie möglich
  5. So langfristig wie nötig und so kurzzeitig wie möglich

1. So früh wie möglich

Ermöglichen Sie Partizipation zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Idealerweise dann, wenn die Idee für ein Change-Vorhaben gerade erst entstanden ist. Oder – im zweitbesten Fall – wenn es bereits eine Idee oder erste
Vorstellungen zum wünschenswerten Zielzustand gibt, aber noch keinen konkreten Plan, wie man da hinkommt. Arbeiten Sie frühestmöglich mit allen relevanten Stakeholdern (Interessengruppen) zusammen und holen Sie die wesentlichen Eckpunkte, Erwartungen und Interessen in frühen Phasen eines Projekts ans Licht! Schnell wird deutlich, wer mit wem über was sprechen muss. Geht es um systemische Problemlösungen oder um Interessenaushandlung (großer Unterschied!)?

Missverständnisse, Vorurteile und negativer Flurfunk können vermieden
werden. Ein guter Start ist die halbe Miete! „Partizipation zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ heißt das Prinzip. Es kann helfen, Energie, Zeit und Geld zu sparen, denn wenn Sie früh mit dem Wissen des Systems arbeiten,

  • decken Sie eigene, ggf. hinderliche Grundannahmen oder sich widersprechende Interessen frühzeitig auf
  • entwickeln Sie von Anfang an vertrauensvolle und belastbare Beziehungen in alle relevanten Ebenen und Bereiche
  • entscheiden Sie mit den Menschen, nicht für die Menschen. Das ist ein annehmbareres Beziehungsangebot!

2. So repräsentativ wie nötig

Holen Sie das Wissen und die Weisheit der Menschen zusammen, die von den Auswirkungen des Vorhabens betroffen sind. Testen Sie Ihre Idee, gleichen Sie Ihre Beweggründe und erste Vorstellungen mit den anderer Stakeholder ab. Welche Reaktionen und Gedanken gibt es? Vielleicht haben Sie einen blinden Fleck, der Sie etwas Wichtiges hat übersehen lassen? Vielleicht entsteht durch die Beteiligung eine viel bessere Lösung, als Sie alleine
hätten entwickeln können? Je nach Komplexität der Organisation oder des Themas laden Sie 8-20
Menschen zu einer „Pilotgruppe“ ein. Bei dieser Größe hat die Gruppe eine gute Chance, repräsentativ und zugleich arbeitsfähig zu sein. Suchen Sie Personen aus, die eine spezifische Sichtweise auf das Thema haben, die über Macht oder Mittel verfügen, Dinge in Bewegung zu setzen und bitten Sie auch Menschen hinzu, die von den Auswirkungen betroffen sein werden. Achten Sie auch auf weitere Merkmale, um eine möglichst repräsentative Gruppe zusammenzustellen: Männer und Frauen, Junge und Alte, lange und kurze Betriebszugehörigkeit (im falle von Organisationen), Menschen aus dem Zentrum und der Peripherie, Menschen, die solche Projekte großartig finden und solche, denen man eher Gegnerschaft und eine grundlegend kritische Perspektive unterstellt.Gehen Sie auf Nummer sicher. Nutzen Sie von Anfang an das komplette Wissen des ganzen, relevanten Systems.

3. So machtvoll wie möglich

Erteilen Sie der Pilotgruppe und den Begleiter:innen (Facilitator) das Mandat, den Prozess zu planen, zu testen und zu begleiten. Sie erschaffen so eine machtvolle Einheit, einen Mikrokosmos des relevanten Systems:

  • Menschen, die von den Veränderungen betroffen sind
  • Menschen, die eine spezifische/wichtige Sichtweise, Expertise oder Informationen zur Sache haben
  • Menschen, die Macht und Mittel haben, Dinge in Bewegung zu setzen

Diese Gruppe wird nachhaltiger und erfolgreicher planen als einzelne Entscheider:innen, denn alles, was entsteht, wird in der Vielfalt aller möglichen Sichtweisen beraten, ausprobiert, bewertet und entschieden – fortwährend. Die Pilotgruppe ist die Keimzelle, der „Nukleus“, für die anstehende Veränderung: Der eigentliche Change geht hier vonstatten. Dynamiken entstehen, das Thema wird hier mitunter zum ersten Mal im Fraktal (Querschnitt des relevanten Systems) gelöst. Das Prozessdesign entscheidet sich in dieser Gruppe und wird solide und praxistauglich im Gesamtsystem angewandt – stets mit dem Leitgedanken „die Struktur folgt dem Prozess“. Das heißt, dass die Pilotgruppe zwar einen belastbaren und relevanten Plan entwickelt hat, aber dass die Dinge vor Ort
möglicherweise doch ein wenig anders verlaufen können. Sie und die Pilotgruppe sind immer gut vorbereitet, denn Sie lernen, wie schnell sich selbst die eigene Perspektive (das eigene Wissen) weiterentwickelt und Sie haben durch die Pilotgruppe, die einen repräsentativen Querschnitt des relevanten Systems darstellt, immer den Finger am Puls der Organisation (bzw. des größeren Systems). Sie entwickeln schnell Expertise hinsichtlich einer oftmals sehr komplexen Gemengelage.

Wozu braucht es Facilitatoren, Begleiter:innen ?

Facilitatoren begleiten und beraten die Pilotgruppe und den Primärklienten (Managementteam, Entscheider:in). Sie sind allparteilich (nicht neutral), sie verfügen über Prozess-Knowhow und haben die Aufgabe, diese Kompetenzen so früh und so schnell wie möglich in die Organisation bzw. das Projekt zu bringen. Facilitatoren begleiten den Prozess und teilen ihr Knowhow, um sich baldmöglichst überflüssig zu machen.

4. So klar wie möglich

Sorgen Sie von Anfang an für Klarheit, was das Mandat der Pilotgruppe umfasst und welche unumstößlichen Rahmenbedingungen es gibt. In der Regel geht es um Ressourcen (Zeit & Geld), Entscheidungsspielräume (an welcher Stelle werden Beteiligung und das Wissen des Systems benötigt), Rollenklarheit (wer übernimmt welche Funktion und ggf. Expertenrolle und wann) und Kommunikationswege (wie erfolgt die Zusammenarbeit mit
den verschiedenen Führungsebenen).

Diese Rahmenbedingungen, so genannte „Givens“ müssen allen Beteiligten klar sein. Vielleicht wird das eine oder andere in einem Zieldialog gemeinsam abgestimmt, aber insgesamt müssen Auftrag und Handlungsspielraum der Pilotgruppe von allen Beteiligten als sinnvoll anerkannt und insgesamt akzeptiert werden – auch von den Mitgliedern der Pilotgruppe selbst. Ein gleiches, von allen Beteiligten geteiltes Verständnis entspringt einem Dialogprozess und ist selten mit einem einzigen Meeting zu etablieren. Ziel ist die Bildung eines belastbaren Fundaments für dialog-orientierte Veränderungsprozesse, denn kollektive Intelligenz, Co-Creation, und Multi-Perspektivität sind Schlagworte, die von allen Beteiligten in der Regel erst mit mein wenig Erfahrung in der Tiefe erfasst werden.

5. So langfristig wie nötig und so kurzzeitig wie möglich

Wenn Sie ein organisationsweites, komplexes Projekt planen, werden Sie mit 45-minütigen Telefonkonferenzen nicht weit kommen. Wenn Sie eine Agenda haben, die reich an Tagungsordnungspunkten ist, pressen Sie diese nicht in ein 2-Stunden-Meeting. Wenn Sie es mit einer sehr heterogenen Gruppe und einer undurchsichtigen Gemengelage zu tun haben, reduzieren Sie die Initiative nicht auf eine Kick-off-Konferenz und das war‘s. Sie werden für komplexe Projekte und „echte“ Transformation viel (Meeting-)Zeit und face-to-face auf verschiedenen Ebenen benötigen. Sie brauchen den direkten, unverstellten Kontakt mit Menschen, die gemeinsam starten, Vertrauen gewinnen und nach und nach ihr Wissen und ihre Standpunkte teilen (bevor sie sie miteinander verflüssigen). Häufig sind das Menschen, die sich trotz vielfacher negativer Erfahrungen mit Prozessen dieser Art noch einmal auf den Weg machen und sich engagieren. Stärken Sie dieses Engagement mit einem durchdachten und plausiblen Gesamtprozess und einer Kultur, die an jeder Stelle zum Mitdenken und Mitarbeiten einlädt.

Manchmal hören wir, dass es unüblich ist, sich länger als 2 Stunden zu treffen oder mehr als einen Tag einzuplanen. Wenn diese und ähnliche Routinen zu erfolgreichen Projekten, Change-Vorhaben und Entwicklungsprozessen führen, gut. Wenn nicht, dann könnten Sie darüber nachdenken, ob nicht genau diese Routinen einen Teil des Problems darstellen. Verlassen Sie Routinen. Beginnen Sie damit, neue Kontexte für echten Erfolg zu schaffen.

Fazit und Dank

Für uns Kommunikationslotsen sind diese fünf Regeln ein Kondensat einer über 25-jährigen Praxis mit Dialog und Beteiligungsprozessen. Sie sind kein (Erfolgs-)Rezept, doch man kann sie sehr erfolgreich ein- und umsetzen. Jeweils situationsgemäß anpassen!

Explizit möchten wir an dieser Stelle Marvin Weisbord & Sandra Janoff erwähnen. Wir sind auch Kathleen Dannemiller, Ed Schein, Harrison Owen, Roger Schwarz, M. Scott Peck, David Bohm, David Cooperrider, Christina Baldwin, Ann Linnea und unseren Kollegen der IAF (International Association of Facilitators) für die Inspiration und Grundlagen unseres Wirkens als Facilitator, Coach und Prozess-Consultants zu Dank verpflichtet. Mehr dazu finden Sie in unserem Buch „Facilitation – dialog- und handlungsorientierte Organisationsentwicklung.“, Scholz/Vesper, Vahlen 2022.


Details

Die Pilotgruppe …

  • ist eine heterogene Gruppe mit verschiedenen Perspektiven auf das
    Thema. Sie stellt einen Mikrokosmos des – für das Thema – relevanten
    Systems dar.
  • repräsentiert so weit wie möglich die Unterschiedlichkeit des relevanten Systems.
  • ist nicht gleichzusetzen mit einem Projektteam oder Projektkernteam, da die Pilotgruppe zum Gegenstand der Erkundung wird und nicht nur theoretisch Phasen, Tools und Methoden bespricht bzw. plant.
  • durchläuft in der Vorbereitung die gleichen Phasen (des Veränderungsprozesses bzw. Projektes) wie die Großgruppe bzw. das ganze relevante System und hat somit Pilot-Funktion.
  • muss im Vorfeld eines Projektes bzw. einer Intervention herausfinden, welches die Kernthemen sind, worüber dringlich gesprochen werden muss und wer zu beteiligen ist (relevante Interessengruppen). Das heißt, die Pilotgruppe übernimmt die Rolle des Experten für die Inhalte (die externen Facilitatoren übernehmen die Rolle des Experten für den Prozess).

Die Pilotgruppe findet heraus, welche Themen relevant sind, welche Fragestellungen für alle interessant und hilfreich sind und wie der Diskurs im gesamten relevanten System ermöglicht werden kann. Das Ziel
der Zusammenarbeit ist es, den Weg der Erkundung hin zur Lösung vorzugehen und nicht vorweg zu nehmen. Es geht zwischendurch immer wieder darum, das größere, gesamte System an dieser Erkundung und
Suchbewegung zu beteiligen (Ziel ist ein „Fühlenplan“, kein „Kommunikationsplan“!). Zu diesem Zweck arbeitet die Pilotgruppe einerseits inhaltlich und trifft andererseits Prozessentscheidungen hinsichtlich der Beteiligung des Gesamt-Systems.

Wer sollte in der Pioniergruppe vertreten sein?

Marvin Weisbord und Sandra Janoff haben dazu eine einfache Formel aufgestellt. Die ARE-In-Formel: „The right mix of people who ARE IN!“ Durch die Herangehensweise – die Beteiligung des relevanten Systems von Anfang an (bereits ab der Konzeptionsphase) – entstehen erfahrungsgemäß Prozess-, Projekt- und Dialogarchitekturen, die von den Beteiligten als bedeutsam und „bis ins letzte Detail durchdacht“ wahrgenommen werden und zum Gelingen beitragen.
A – Authority
Menschen mit Macht (Entscheidungsträger, Primärklienten).
R – Resources
Menschen, die Mittel zur Verfügung stellen können.
E – Expertise
Menschen, die ein spezifisches Fachwissen zur Sache haben.
I – Information
Menschen, die über spezielle Informationen (Zahlen, Daten, Fakten) verfügen.
N – Need to be involved
Menschen die einbezogen werden müssen, weil sie betroffen sind von den Auswirkungen der Initiative.